Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): Frau Ministerin, Sie haben vor Ihrem Wechsel in den Bund mit Ihren früheren Länderkolleginnen Stefanie Hubig (SPD) und Theresa Schopper (Grüne) konkrete bildungspolitische Ziele gefordert: Bis 2035 sollte die Zahl derer, die an den Mindeststandards scheitert, halbiert werden, die Leistungsspitze um 30 Prozent verbreitert und die Anzahl der erreichten Regelstandards um 20 Prozent erhöht werden. Sehen Sie die Möglichkeit, die Länder zu motivieren, solche Ziele übergreifend zu vereinbaren?
Bundesbildungsministerin Karin Prien: Ich halte das für sinnvoll und notwendig. Sinnvoll ist es aber nur, wenn sich die Länder auch untereinander darauf verständigen. Wir sind mit den Ländern in intensiven vertraulichen Gesprächen, wie wir den Bildungstrend in Deutschland umkehren können.
FAZ: Ausgangspunkt waren die katastrophalen Ergebnisse des Bildungstrends des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB-Bildungstrend), bei deren Veröffentlichung Sie eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern vorgeschlagen haben. Ist die inzwischen arbeitsfähig?
Karin Prien: Die Arbeitsgruppe von Staatssekretären hat seit Oktober mehrfach getagt und wird im Januar eine Klausurtagung abhalten, bei der Arbeitspakete verabredet werden sollen. Wir werden am Donnerstag in der Bildungsministerkonferenz auch auf Ministerebene darüber sprechen. Mein Ziel ist, verbindliche Bildungsziele zu vereinbaren. Es ist schon jetzt ein substanzieller Fortschritt, dass wir vertraulich über die Ursachen und dann auch über die geeigneten Maßnahmen mit den Staatssekretären fast aller Länder sprechen, auf Schuldzuweisungen verzichten und miteinander agieren.
FAZ: Am Montag veröffentlicht die Bertelsmann Stiftung eine Studie über eine erhebliche Steigerung des Bruttoinlandsprodukts, wenn mehr Schüler die Mindeststandards erreichen. Positive Wirkungen würden sich vor allem in solchen Ländern zeigen, in denen viele Schüler an den Mindeststandards scheitern. Wäre das nicht Grund genug, sich dieses Mal auf verbindliche Zahlen zu einigen?
Karin Prien: Die Idee der gemeinsamen Veröffentlichung mit den Kolleginnen Stefanie Hubig und Theresa Schopper mit Unterstützung der Wübben Stiftung zu besserer Bildung war, bundesweit ambitionierte, aber realistische Ziele zu setzen. Wir brauchen nicht nur weniger Schüler, die an Mindestanforderungen scheitern, sondern auch eine größere Leistungsspitze. Die Projektionen der Bertelsmann-Studie zeigen, dass es gewaltige positive volkswirtschaftliche Auswirkungen hätte, wenn man sich Bildungsziele setzte, die etwa dem entsprächen, was wir seit 2012 an Leistungsfähigkeit verloren haben. Daraus würden sich im Laufe der Zeit Milliardenbeträge ergeben, die wir an zusätzlicher Wirtschaftsleistung gewinnen könnten. Auch die Innovationskraft und das Vertrauen der Menschen in unser demokratisches System würden wachsen. Bei der Verabredung verbindlicher Bildungsziele geht es um das Aufstiegsversprechen.
FAZ: Ist seit 2012 in Vergessenheit geraten, warum Leistungsmessungen nötig sind?
Karin Prien: Wir müssen uns vergegenwärtigen, weshalb wir überhaupt Bildungsmonitoring betreiben. Leistungsmessungen und -vergleiche zwischen den Ländern haben nur dann Sinn, wenn daraus wirksame Konsequenzen gezogen werden und diese auch messbar sind. Sonst wird man kaum Verbesserungen erreichen können. Das wäre auch ein modernes Verständnis von Wettbewerbsföderalismus, in dem man sich dem Wettbewerb stellt. Es geht nicht darum, jemanden vorzuführen, sondern es geht darum, voneinander zu lernen und die besten Konzepte aus den Ländern auszutauschen, Best Practices zu übernehmen und neue Instrumente, wissenschaftlich basiert, stärker gemeinsam zu entwickeln. Hier kann dann der Bund unterstützen.
FAZ: Bisher allerdings bewegt sich die Debatte vor allem in Fachkreisen.
Karin Prien: Ich würde mir wünschen, dass Politik und Gesellschaft insgesamt die Bedeutung von Bildung in Familie, Kita und Schule für Aufstiegschancen und soziale Gerechtigkeit, Wachstum, Innovation und Vertrauen in die Demokratie wahrnähmen und auf allen staatlichen Ebenen die notwendigen Investitionen am richtigen Ort prioritär tätigten.
FAZ: Zu den Kernpunkten des Koalitionsvertrags gehört die verbindliche frühkindliche Bildung und Sprachförderung. In einigen Gegenden macht sich der Geburtenrückgang in den Kitas schon bemerkbar. Sehen Sie eine Chance, jetzt mit den frei werdenden Mitteln die Qualität frühkindlicher Bildung zu verbessern?
Karin Prien: Weil wir wissen, dass die frühe Bildung in der Familie und in der Kita der entscheidende Schlüssel für alle Bildungserfolge ist, muss es Ziel aller politischen Ebenen sein, eine demographische Rendite, die sich nach und nach in allen Bundesländern ergeben wird, in die Qualität der frühen Bildung zu stecken. Das heißt, dass wir frühe Förderbedarfe im Bereich Sprache, aber auch bei Motorik und sozial-emotionaler Entwicklung ganz gezielt gemeinsam angehen. Beginnen sollten wir gesteuert nach Sozialindex bei denjenigen mit besonders förderbedürftigen Ausgangslagen. Ich werbe sowohl bei den Ministerpräsidenten als auch im Bundeskabinett dafür, dass wir diese Gelegenheit jetzt ergreifen.
FAZ: Sie waren lange genug Landesministerin, um zu wissen, wie Finanzminister in solchen Situationen verfahren: Sie stopfen Haushaltslöcher mit frei werdenden Mitteln. Wie wollen Sie dafür sorgen, dass das nicht geschieht?
Karin Prien: Die Situation in unserem Bildungssystem ist so dramatisch, dass alle vom Landrat über die Landesminister und Ministerpräsidenten bis zum Bundeskanzler erkennen müssen, dass die Verbesserung der Leistungen im Bildungssystem zur Überlebensfrage für unsere Volkswirtschaft und zunehmend auch für unsere Demokratie geworden ist. Wir müssen auch die Fachkräfte in den Erziehungsberufen dringend im System halten. Für mich ist es eine Schicksalsfrage für Deutschland, die Mittel für die frühe Bildung im System für mehr Qualität einzusetzen.
FAZ: Welche Rolle spielt das Sondervermögen?
Karin Prien: Die Länder haben 100 Milliarden Euro Sondervermögen zu Verfügung, um ihre ureigenen Aufgaben zu stärken. Dazu gehören Kita, Schule, Ganztag und Hochschulen. Auch die Lockerung der Schuldenbremse eröffnet den Ländern Spielräume von mehr als 14 Milliarden jährlich. Da wir als Bund noch einmal vier Milliarden für Kita- und Hochschulinvestitionen zu den 100 Milliarden Sondervermögen für die Länder dazugeben, werden wir sehr genau beobachten, ob und wie die Länder die Mittel auch im frühkindlichen Bereich einsetzen.
FAZ: Welche Möglichkeiten haben Sie als Ministerium, im Rahmen des Kita-Qualitätsgesetzes Mittel zu verweigern, wenn bestimmte Qualitätsvorgaben nicht eingehalten werden?
Karin Prien: Der Bund hat den Ländern im Rahmen des Kita-Qualitätsgesetzes immer befristet Mittel zugewiesen. Ich glaube, dass jetzt die Zeit gekommen ist, die Gelder nur noch unter der Bedingung zu vergeben, dass bestimmte Qualitätsstandards eingehalten werden. Das gilt vor allem für die verpflichtende Sprachdiagnostik und -förderung und die Förderung von Kindern mit schlechten Startchancen. Darüber verhandeln wir seit dem Sommer mit den Ländern, damit wir ein dauerhaft wirkendes, bürokratieärmeres Gesetz auf den Weg bringen können, das 2027 in Kraft treten soll. Ich beabsichtige, dazu im zweiten Quartal 2026 einen Gesetzentwurf vorzulegen. Wir führen gegenwärtig in meinem Ministerium die frühe Bildung mit der allgemeinen Bildung zusammen, erleben also auch die historisch gewachsenen unterschiedlichen Kulturen der Bildungsbereiche. Es geht nicht darum, die Kita zu verschulen, sondern darum, Kindern zu ermöglichen, in einem bestimmten Alter bestimmte Kompetenzen zu erwerben und diese auch zu messen. Das Kind muss im Mittelpunkt stehen. Aus der BRISE-Studie in Bremen wissen wir, dass wir einen Bildungsplan von null bis zehn entwickeln können, der kindgerecht ist, aber trotzdem Kompetenzen über die Bildungsinstitutionen konsequent fördert. Eltern, Kita und Schule müssen deutlich enger zusammenarbeiten, damit das gelingt. Es wird am Ende auch unter den Kitas einen gesunden Wettbewerb geben, bei dem sich das Bessere gegen das Gute durchsetzen wird.