Es gilt das gesprochene Wort.
English Version below.
Geachte heer Hertzberger, geachte heer Heilbronn, geachte Minister Paul, geachte mevrouw Durlacher, sehr geehrte Exzellenzen, liebe Anwesende,
Amsterdam ist meine Geburts- und Studienstadt. Hier ist schon meine Mutter geboren, hier haben meine Eltern sich kennengelernt, meine Großeltern Zuflucht gefunden, vor der Verfolgung durch die Nazis und später die Kommunisten.
Daarverr ben ik Amsterdam nog steeds enorm en diep dankbaar!
Amsterdam is een deel van mijn leven.
Amsterdam is een stukje thuis, in dat ik graar terugkom.
Het is voor mij een grote eer om hier vandaag te mogen spreken.
Danke, dass ich hier sein darf.
Heute vor 87 Jahren brannten in Deutschland Synagogen. Jüdische Geschäfte wurden geplündert und zerstört, Friedhöfe geschändet, Menschen gejagt, geschlagen, ermordet. Viele sahen gleichgültig zu, die meisten sahen weg: Nachbarn, vermeintliche Freunde, Arbeitskollegen.
Der 9. November 1938 war der Moment, in dem Diskriminierung, Ausgrenzung und Entrechtung der Jüdinnen und Juden in offene Gewalt überging. Es war der Vorbote der Shoah.
Dieser Tag bleibt ein Tag des tiefen Schmerzes, des Innehaltens. Und er bleibt eine beständige Mahnung: Er verpflichtet uns, die Erinnerung wachzuhalten. Immer. Nicht als Ritual, sondern als Lebenshaltung, als Kompass. Heute und immerfort.
Wir erinnern uns. Und wir gedenken der Menschen, die ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden. Wir sagen ihre Namen und erzählen ihre Geschichte.
Heute durfte ich nach Jahren wieder das Anne Frank Haus besuchen. Die Geschichte der Familie Frank, Annes Geschichte, hat meine Kindheit und Jugend geprägt. Ihr Schicksal wurde zu einem Symbol dafür, wie grausam die Nationalsozialisten, ihre Schergen, Unterstützer und Profiteure waren.
Das Haus hält die Erinnerung lebendig, indem es wertvolle und zeitgemäße Bildungsarbeit leistet, die Jugendliche zum Nachdenken anregt und ihnen zeigt:
Ich kann handeln gegen Hass und Diskriminierung. Jede und jeder von uns stehen weiter in der Verantwortung, dass Geschichte sich nicht wiederholt.
Hier in der Portugiesischen Synagoge Amsterdam zu Ihnen sprechen zu dürfen, bewegt mich tief. Ich stehe hier als Vertreterin Deutschlands. Und damit des Landes, das so unermessliches Leid über Europa und die Welt gebracht hat.
Zugleich stehe ich hier als Enkelin jüdischer Großväter, als Nachfahre großer jüdischer Familien mit deutschen und niederländischen Wurzeln, die in den 1930er Jahren aus Deutschland und 1950 aus der damaligen Tschechoslowakei in die Niederlande flohen, um der Verfolgung zu entgehen. Sie haben überlebt. Die meisten aus diesen Familien nicht.
Das Gefühl, nicht sicher zu sein, jederzeit von Verfolgung und Diskriminierung betroffen sein zu können, ist geblieben auch in meiner Familie. Es ist auch Teil meiner Identität.
Und dieses Gefühl der Unsicherheit ist berechtigt.
Seit den schrecklichen Ereignissen des 7. Oktober 2023 erleben wir erneut, wie bedroht jüdisches Leben ist - in Deutschland, in den Niederlanden, überall.
Oder wie Sie, sehr geehrte Frau Durlacher, es in der deutschen Tageszeitung "Die Welt" formulierten: "Das Tabu gegen Hass, nach dem Holocaust aus Höflichkeit aufgestellt, hat sich als zerbrechliches Gewebe erwiesen. Und jetzt ist es zerrissen. Das Biest ist zurück."
Und das hat Folgen. Jüdinnen und Juden verbergen ihre Identität, meiden bestimmte Orte, ziehen sich in die Unsichtbarkeit zurück, um nicht Opfer von Diskriminierung und offener Gewalt zu werden.
Auch ich habe als Kind gelernt, dass man besser nicht über die eigenen jüdischen Wurzeln spricht, vor allem nicht im Land der Täter.
Aber ich habe mich als Erwachsene - erst vor wenigen Jahren - dafür entschieden, es anders zu handhaben. Weil es nicht schweigend ertragen werden darf, wenn Jüdinnen und Juden Angst haben müssen, in Europa, 80 Jahre nach der Shoah.
Sie wissen:
Vor genau einem Jahr hat sich auch hier in Amsterdam gezeigt, wie schnell Hass in Gewalt umschlagen kann, und wie sehr auch Hass im Netz zur Mobilisierung beiträgt. Sie hier in Amsterdam waren ganz nahe an den Ausschreitungen vor und nach dem Spiel von Ajax Amsterdam gegen MACCABI Tel Aviv in der Europa Liga, haben sie vielleicht sogar miterlebt.
Dazu habe ich heute auch mit David Beesemer von MACCABI gesprochen. Ich kann das Erschrecken und die Fassungslosigkeit noch spüren.
Jüdinnen und Juden in Europa und auf der ganzen Welt haben Angst, müssen Angst haben. Und sie sind enttäuscht. Weil sie in der nicht-jüdischen Bevölkerung immer weniger Verständnis, Unterstützung und Solidarität spüren, stattdessen viel Schweigen und Gleichgültigkeit. Trotz des Wissens um die Geschichte, trotz der Beteuerungen des "Nie wieder!". Genau diese erdrückende Gleichgültigkeit ist es, die sich wie ein roter Faden von der Reichspogromnacht bis in die Gegenwart zieht.
Dennoch habe ich Hoffnung - oder besser, Zuversicht, ganz im Sinne Immanuel Kants, die eigene Vernunft zu gebrauchen, anstatt sich von Ängsten oder pessimistischen Erwartungen leiten zu lassen.
Die Zeichen im Nahostkonflikt stehen erstmals seit langem wieder besser. Bei meinem Besuch in Israel vor einer Woche konnte ich das persönlich erleben. Die jungen Menschen in Israel, Juden und Araber, haben mir Hoffnung gemacht.
Und ich sehe die Menschen, die nicht wegsehen: Die sich engagieren in den vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen in Europa, die gegen Antisemitismus arbeiten, die historisch-politische Bildungsarbeit gestalten, die sensibilisieren und gegen Menschenhass werben: im Sport, in der Schule, im Arbeitsleben und in den Sozialen Medien. Von entscheidender Bedeutung bleiben der Dialog und die Begegnung zwischen Menschen in Deutschland, Europa und Israel, aber auch der interreligiöse Dialog.
Mein Ministerium unterstützt diese Arbeit, und wir werden das fortsetzen.
In unserer Verantwortung wird die Ansiedlung des Yad Vashem Education Center in Deutschland gestaltet. Ein Ort, an dem Erinnerung und Gegenwart zusammenkommen.
Die vielen Menschen, die oft im Hintergrund, aber unermüdlich für unsere liberalen Demokratien, für Versöhnung und Ausgleich, gegen Antisemitismus und Menschenhass eintreten - sie lassen mich hoffen, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Dass jüdisches Leben in Europa wieder sichtbarer und sicher sein kann.
Ich verneige mich in tiefer Trauer vor allen Opfern der Shoah. Und ich nehme die Erinnerung an sie als Auftrag, gegen Antisemitismus, gegen Hass und Gleichgültigkeit vorzugehen, für universelle Menschenrechte, für Freiheit und die liberale Demokratie zu arbeiten - jeden Tag. Todah rabbah. Dank u wel. Vielen Dank.
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Geachte heer Hertzberger, geachte heer Heilbronn, geachte Minister Paul, geachte mevrouw Durlacher, your your excellencies, distinguished guests,
Amsterdam is the city where I was born and where I studied. My mother was born here, my parents met here, and my grandparents found refuge here from Nazi persecution.
Daarverr ben ik Amsterdam nog steeds enorm en diep dankbaar!
Amsterdam is een deel van mijn leven.
Amsterdam is een stukje thuis, in dat ik graar terugkom.
Het is voor mij een grote eer om hier vandaag te mogen spreken.
Thank you for giving me the opportunity to stand here today.
Eighty-seven years ago today, synagogues in Germany went up in flames. Jewish shops were looted and destroyed, cemeteries desecrated people hunted down, beaten, murdered. Many looked on indifferently, most looked away: neighbours, supposed friends, coworkers.
The 9th of November 1938, was the moment when discrimination, exclusion, and disenfranchisement of Jews turned into open violence. It foreshadowed the Shoah.
This day remains a day of deep sorrow and reflection. And it remains a constant reminder: we are obliged to keep the memory alive. Always. Not as a ritual, but as an attitude towards life, as a compass. Today and forever.
We remember. And we commemorate the people who were marginalised, persecuted, and murdered. We say their names and tell their stories.
Today, I had the opportunity to visit the Anne Frank House again after many years. The story of the Frank family, Anne's story, shaped my childhood and my youth. Her fate became a symbol of how cruel the Nazis, their henchmen, supporters, and profiteers were.
The Anne Frank house keeps the memory alive by providing valuable and contemporary educational work that encourages young people to reflect. And it shows them: I can take action against hatred and discrimination. Each and every one of us continues to bear responsibility: for ensuring that history does not repeat itself.
It moves me deeply to be able to speak to you here in the Portuguese Synagogue in Amsterdam. I stand here as a representative of Germany. And thus of the country that brought such immeasurable suffering upon Europe and the world.
At the same time, I stand here as the granddaughter of Jewish grandfathers, as a descendant of large Jewish families with German and Dutch roots. My maternal grandfather fled to the Netherlands in the 1930s to escape persecution and murder by the Nazis. Here, too, he had to go into hiding. But he survived. Unlike most of my family.
For many Jews, however, persecution did not end after the Nazi era. My paternal grandparents, who were living in Czechoslovakia at the time, had only a brief respite. They then fled to the Netherlands to escape the communist dictatorship.
The feeling of being uprooted, of not being safe, of being vulnerable to persecution and discrimination at any time, has remained in my family. It is also part of my identity.
And this feeling of insecurity is justified.
Since the terrible events of the 7th of October 2023, we have witnessed once again how threatened Jewish life is - in Germany, in the Netherlands, everywhere.
Or as you, Ms Durlacher, put it in the German daily newspaper "Die Welt": "The taboo against hatred, established out of courtesy after the Holocaust, has proven to be a fragile fabric. And now it is torn. The beast is back."
And that has consequences. Jews hide their identity, avoid certain places, and retreat into invisibility so as not to become victims of discrimination and open violence.
As a child, I too learned that it was better not to talk about one's Jewish roots, especially in the country of the perpetrators.
But as an adult - just a few years ago - I decided to take a different approach.
Because it cannot be tolerated in silence when Jews have to live in fear in Europe, 80 years after the Shoah.
You know: Exactly one year ago, here in Amsterdam, we saw how quickly hatred can turn into violence, and how much online hatred contributes to mobilisation. Here in Amsterdam, you were very close to the riots before and after the Ajax Amsterdam vs. MACCABI Tel Aviv game in the Europa League; you may even have witnessed them.
I also spoke with David Beesemer from MACCABI about this today. I can still feel the shock and horror.
Jews in Europe and around the world are afraid, and they have reason to be afraid. And they are disappointed. Because they feel less and less understanding, support, and solidarity from the non-Jewish population, and instead encounter silence and indifference. Despite knowing about history, despite the assurances of "Never again!" It is precisely this oppressive indifference that runs like a thread from Kristallnacht to the present day.
Nevertheless, I have hope - or rather, confidence, in the spirit of Immanuel Kant, to use my own reason instead of being guided by fears or pessimism.
For the first time in a long time, the signs in the Middle East conflict are looking better. I was able to experience this personally during my visit to Israel a week ago. The young people in Israel, Jews and Arabs alike, gave me hope.
And I see the people who do not look away: who are involved in the many civil society initiatives in Europe that work against antisemitism, who shape historical and political education, who raise awareness and campaign against hatred: in sports, in schools, in working life, and on social media. Dialogue and encounters between people in Germany, Europe, and Israel remain crucial, as does interfaith dialogue.
My ministry supports this work, and we will continue to do so. We are responsible for establishing the Yad Vashem Education Center in Germany. A place where memory and the present come together.
The many people who often work behind the scenes but tirelessly stand up for our liberal democracy, reconciliation and peace, and against antisemitism and hatred of people - they give me hope that history will not repeat itself. That Jewish life in Europe can once again be visible and safe.
I bow my head in deep sorrow before all the victims of the Shoah. And I take the memory of them as a mandate to take action against antisemitism, against hatred and indifference, to work for universal human rights, for freedom and liberal democracy - every day. Todah rabbah. Dank u wel. Vielen Dank. Thank you.