Süddeutsche Zeitung (SZ): Wir haben uns sehr über Ihre Zusage gefreut. Warum geben Sie gerade der SZ für Kinder ein Interview?
Karin Prien: Ich bin ja auch die Bundeskinderministerin. Das heißt, es ist mein Job, mich für Kinder starkzumachen. Das ist mir wichtig, zumal wir in einer Gesellschaft leben, in der es immer mehr ältere und immer weniger junge Menschen gibt.
SZ: Träumen Sie mit uns: Sie sind noch mal elf Jahre alt und dürfen sich aussuchen, in welcher Zeit und in welchem Land Sie leben. Was würden Sie wählen?
Karin Prien: Ich würde sagen, in Deutschland heute als Kind oder Jugendlicher zu leben, ist immer noch einer der besten Plätze der Welt. Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie, bei uns ist Frieden. Wir leben in Wohlstand. Und auch die Folgen des Klimawandels sind bei uns zwar spürbar, aber - jedenfalls bisher - weniger bedrohlich.
SZ: Ist es eine gute Zeit, um Kind zu sein?
Karin Prien: Ja. Der Mensch neigt dazu, vor allem auf die Probleme zu schauen. Im historischen Vergleich ist es eine sehr gute Zeit, um Kind zu sein.
SZ: Sie wollen als Ministerin für ein "gutes Aufwachsen" von Kindern und Jugendlichen sorgen. Was heißt das?
Karin Prien: Es geht darum, dass Kinder sicher, gesund und gemeinsam mit ihren Altersgenossen, unabhängig von Herkunft oder Religionen aufwachsen können. Es geht darum, dass wir ein besseres Bildungssystem haben. Und mir persönlich geht es auch darum, sie für unsere Demokratie zu begeistern.
SZ: Sie dürfen jetzt Nikolaus spielen und ein paar mahnende Worte richten, diesmal an die Eltern: Was machen die gerade richtig gut? Was verkehrt?
Karin Prien: Kinder und Jugendliche haben heute - das sagen sie selbst - ein so gutes Verhältnis zu ihren Eltern wie nie zuvor. Der Großteil der Eltern kümmert sich hingebungsvoll …
SZ: Okay, kommen wir gleich zu den Minuspunkten.
Karin Prien: Na ja, problematisch wird es, wenn das Kümmern zu viel wird. Kinder brauchen Freiraum. Kinder müssen sich auch ausprobieren können, auch Fehler machen dürfen. Dann müssen wir über Social-Media-Konsum und Bildschirmzeiten sprechen. Und zwar von den Eltern! Das fängt ganz früh an. Manche Eltern schauen heute mehr aufs Handy als in den Kinderwagen. Babys brauchen Blickkontakt. Es muss jemand mit ihnen sprechen, gerade wenn sie es selbst noch nicht können. Dann: Vorlesen, Spiele spielen, Sandburgen bauen, Fahrradfahren lernen. Eltern sollten dranbleiben, auch wenn Kinder zwischendurch mal keine so große Lust haben.
SZ: Sie haben selbst drei Söhne. Auf was hatten die keine Lust?
Karin Prien: Da gab es immer wieder Sachen: Musikunterricht, Sport. Das ist etwas, was mir meine inzwischen erwachsenen Söhne heute sagen: Klavier, Geige - Mensch Mama, da hättest du ruhig mal ein bisschen mehr aufs Durchhalten pochen können. Eine Kindergärtnerin, die ich sehr schätze, hat mir mal gesagt: Du schuldest deinen Kindern Liebe und Widerstand zugleich. Eltern sind eben nicht die besten Freunde ihrer Kinder.
SZ: In welchem Alter haben Ihre Kinder ein eigenes Handy bekommen?
Karin Prien: Mein Ältester ist jetzt 26. Als der klein war, gab es noch keine Smartphones. Da ging es eher um Nintendo, Playstation und solche Sachen. Die beiden Kleineren haben ihr erstes Smartphone irgendwo zwischen zehn und zwölf bekommen. Meine feste Überzeugung: Jedes halbe Jahr, das ohne geht, ist ein gewonnenes. Und auf keinen Fall sollte es ein Handy geben, bevor jemand gut lesen kann und in der Lage ist, ganze Bücher zu lesen. Aber klar: Irgendwann, mit 13 oder 14, geht es kaum mehr ohne. Es findet ja ein guter Teil des sozialen Miteinanders auch über Handys statt.
SZ: Und dann sind sie (die Kinder/Jugendlichen) erstmal weg, im Handy, mit nackten Frauen …
Karin Prien: Ich bin nicht prüde. Jetzt wird mein Pressesprecher gleich schimpfen, aber ich habe als Jugendliche die erotische Literatur vom Nachtschrank meines Vaters gemopst. Auf Englisch. Meine Eltern fragten mich, ob ich darüber reden will, was ich natürlich nicht wollte, weil es ungemein peinlich war. Irgendwann meinten sie dann: Wenn dein Englisch so gut ist, dann ist das schon okay.
SZ: Heißt: Pornos gucken nur auf Englisch?
Karin Prien: Nein, natürlich nicht. Erotische Literatur als Jugendliche zu lesen, ist was völlig anderes, als die Bilder zu sehen, die heute im Internet stehen. Da geht es nicht mehr um Frühsexualisierung, sondern um Traumatisierung. Haben Jugendliche überhaupt die Chance, eine eigene Sexualität zu entwickeln? Ich glaube, man muss das sehr ernst nehmen, auch mit Blick auf die vielen psychischen Erkrankungen, die gerade junge Mädchen, aber auch Jungen heute haben. Das Gleiche gilt natürlich für Gewalt und extremistische Inhalte.
SZ: Wie bekommt man das Internet kindersicher?
Karin Prien: Wir werden jetzt an wirksamen Mechanismen arbeiten müssen, die das Alter feststellen. Aber klar: Eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Man wird auch dies umgehen können, weil ein älteres Geschwister die App besorgt oder unverantwortliche Erwachsene.
SZ: Brauchen wir ein Handyverbot an Schulen?
Karin Prien: Das ist etwas, was von den einzelnen Bundesländern entschieden wird. Ich denke, ja. Noch mal zur Klarstellung: Wir sprechen über ein Verbot der privaten Handynutzung an Grundschulen. Ich war zuvor Bildungsministerin in Schleswig-Holstein. Dort ist so ein Verbot umgesetzt.
SZ: Ab welchem Alter sollten Kinder Tiktok und Instagram nutzen dürfen? In Australien ist es erst ab 16.
Karin Prien: Wir werden genau darüber in Deutschland jetzt reden müssen. Dazu befragen wir in den nächsten Wochen Experten und Wissenschaftlerinnen. Was am Ende herauskommt, ob das jetzt 14 oder 16 ist, weiß ich nicht. Aber es wird sicherlich nicht acht oder zehn sein.
SZ: Hinterfragen Sie auch Ihre eigene Social-Media-Nutzung?
Karin Prien: Natürlich. Und ja, es ist mir nicht nur einmal im Leben passiert, dass ich Dinge gepostet habe, bei denen sich im Nachhinein eine Dynamik ergeben hat, die ich so nicht erwartet hatte, die ich vielleicht aber hätte vorhersehen müssen. Auch Dinge, bei denen ich heute sagen würde: Würde ich so nicht noch mal machen.
SZ: Sie sind Ministerin eines Superministeriums, also eine Art Superministerin. Sie haben den großen Bereich Bildung ins Familienministerium geholt, sind jetzt "Bundesministerin für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend". Haben Sie entschieden, dass die Bildung ganz nach vorne kommt?
Karin Prien: Ja. Bildung ist aus meiner Sicht die zentrale Antwort auf viele gesellschaftliche Herausforderungen. "Superministerium" - weiß ich nicht, aber es ist das Ministerium für gesellschaftlichen Zusammenhalt, von der Kita bis zu älteren Menschen.
SZ: Wie funktioniert das in der Schule? Da kommen Kinder mit ganz unterschiedlichen Geschichten zusammen, von Fluchterfahrung über behütete Familie bis zu Nahostkonflikt.
Karin Prien: All das muss in den Schulklassen besprochen werden. Denn natürlich hat ein palästinensischer Jugendlicher das gleiche Recht, mit seiner besonderen Geschichte gesehen zu werden, wie ein jüdischer Schüler und alle anderen auch. Das Problem: Im Studium der Lehrkräfte vor zehn oder zwanzig Jahren hat das noch keine große Rolle gespielt. Das heißt: Es muss in die Lehrerausbildung und in die Fortbildung.
SZ: Müssen Kinder mit Migrationsgeschichte Angst haben, dass sie bald nicht mehr zur Schule dürfen?
Karin Prien: Nein und ich will auch keine Begrenzungen an Schulen, wie es gerade hieß. In Bremerhaven etwa, wo über 70 Prozent der Kinder eine Migrationsgeschichte haben, erübrigt sich das ohnehin. Und trotzdem: Wir müssen eine Lösung für den hohen Anteil von Kindern finden, die unsere Sprache nicht beherrschen. Das hat zwar oft mit Migration zu tun, aber nicht immer. Eine frühere und bessere Sprachförderung kann helfen.
SZ: Viele ukrainische Schülerinnen und Schüler lernen in deutschen Schulen. Was sind die größten Herausforderungen dabei?
Karin Prien: Wenn es um Schule geht, geht es oft um das, was nicht klappt. Seit Februar 22 sind etwa 220.000 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine in Deutschland relativ geräuschlos aufgenommen worden. Auch mit Hilfe ukrainischer Lehrkräfte, die jetzt oft auch dauerhaft in den Schuldienst übernommen werden konnten. Eine wirklich gute Entwicklung. Aber Schule kann gesellschaftliche Herausforderungen nicht allein lösen. Dazu kommt, dass viele Kinder und Jugendliche sich zerrissen fühlen: Wo gehöre ich eigentlich hin? Mein Vater, mein Großvater sind in der Ukraine, meine Mutter, ich, meine Geschwister hier.
SZ: Frau Prien, Kinder sind vollwertige Menschen, von Anfang an. Was Ihnen fehlt, ist Erfahrung. Als 60-jährige Bundeskinderministerin, was würden Sie sagen: Was ist wirklich wichtig im Leben?
Karin Prien: Du kannst heute werden, was immer du willst. Lass dir nicht einreden, dass man unbedingt studieren oder eine bestimmte Ausbildung machen muss. Such dir das aus, wofür du wirklich brennst. Das herauszubekommen, ist nicht ganz einfach, aber wichtig. Und ein bisschen Zuversicht tut dabei sicher gut - allen.